Über den deutlichen Effekt von Antipsychotika der zweiten Generation (second generation antipsychotics/SGA) auf eine Gewichtszunahme habe ich bereits im Blog hingewiesen. In einem neuen Artikel von Melissa Blouin und Mitarbeitern der Laval University in Quebec City, in der August-Ausgabe von OBESITY erschienen, wird die Wirkung dieser Medikamente auf Appetit, Hunger, Sättigung, Esskontrolle und Nahrungsmittelpräferenzen bei Patienten unter SGA-Therapie (n=20) untersucht und mit Kontrollen (n=18) verglichen.
Nach einem standardisierten Frühstück hatten Patienten unter SGA-Therapie mehr Hunger, kontrollierten sich bewusster bei der Nahrungsaufnahme, empfanden eine geringere Disinhibition und ein stärkeres Hungergefühl als die Kontrollen. Im Gegensatz zu den Kontrollen war die Disinhibition bei den Patienten unter SGA im Wesentlichen von inneren Triggern ausgelöst. Obwohl Patienten unter SGA ein stärkeres strategisches Beherrschungsverhalten zeigten, berichteten sie über ein geringeres Sättigungsgefühl nach einer Buffet-Mahlzeit. Bei den Nahrungsmittelpräferenzen wurden keine Unterschiede gesehen.
Diese Studie hat einige interessante Blickwinkel. Die SGA-behandelten Patienten waren nicht nur sensibler gegenüber dem Hungergefühl, sondern sie kontrollierten auch bewusster ihre Nahrungsaufnahme, möglicherweise als eine Strategie zur Gewichtskontrolle. Das erklärt natürlich teilweise die Tatsache, dass sie sich nach einer Mahlzeit weniger satt fühlten als die Kontrollen.
Es ist bekannt, dass eine bewusste Zurückhaltung, das freiwillige Einschränken der Nahrungsaufnahme, eine Tendenz zum Zuviel-Essen bis hin zum suchtartigen Essen nach sich zieht, sobald die Restriktionen aufgehoben werden (z.B. soziale „Enthemmung“). Das Endergebnis ist paradoxerweise ein Gewichts(wieder)anstieg. Dieses gegenregulatorische Phänomen wurde von Janet Polivy (University of Toronto) eingehend beschrieben und zeigt im Wesentlichen, dass Nahrungsentzug bei Menschen, die sich einer Diät unterziehen (erzielt mit bewusster Nahrungsrestriktion) eine Neigung zum Zuvielessen nach sich zieht, und dies erklärt, warum eine langfristige Diät für kontrolliert Essende nicht funktioniert. Mit anderen Worten: Der Versuch, einfach weniger zu essen, um die Adipositas zu behandeln, ist zum Scheitern verurteilt!
Aus humanitärer Sicht scheinen die Patienten unter SGA-Therapie in einem Teufelskreis gefangen: Die Antipsychotika verändern das Essverhalten in Richtung höheres Gewicht – die Patienten versuchen, eine weitere Zunahme zu verhindern, indem sie bewusst ihre Nahrungsaufnahme einschränken – sie fühlen sich weniger gut gesättigt und essen schließlich noch mehr.
Kompliziert!
Wir wissen aus dieser Studie noch nicht, ob das abweichende Verhalten der Patienten an ihrer Medikation liegt oder an der Grundkrankheit. Eine dritte Gruppe von Probanden, deren Psychose mit älteren Antipsychotika behandelt wird, hätte diese Frage beantworten können.
Auf jeden Fall zeigt die Studie, dass wir sehr vorsichtig damit sein müssen, jemanden mit Adipositas für diesen Zustand einfach selbst verantwortlich zu machen. Denn diese Studie erinnert daran: eine Zunahme zu vermeiden, indem man einfach weniger isst, das ist oft geradezu das beste Rezept für eine langfristige Gewichtszunahme.
AMS
Edmonton, Alberta
Dienstag, 26. August 2008
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